Verehrt und verfemt:
Marc Chagall und Deutschland
eine Einführung
[ENGLISH]
Chagall wurde ähnlich wie Van Gogh als bedeutender Künstler
der Moderne bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entdeckt. Zu den
Käufern seiner Werke gehörten deutsche jüdische und nichtjüdische Sammler, die
sich für Avantgarde-Kunst interessierten.
Eine zentrale Rolle der Vermittlung
spielt dabei der Kunstkritiker und Galerist Herwarth Walden. 1912/1913 lernte er
Chagall in Paris kennen und stellte von da an seine Werke regelmäßig in der
Berliner Galerie 'Der Sturm' aus. Durch die kontinuierliche
Ausstellungstätigkeit Herwarth Waldens wurde Chagall, der während des Ersten
Weltkrieges wieder in Russland lebte, ein berühmter, aber gleichwohl als Person
unbekannter Künstler, dessen Werke nicht nur in Privatsammlungen hingen, sondern
auch in den Museen von Frankfurt, Mannheim, Essen und Dresden. In deutschen
Sammlungen befanden sich Gemälde, die heute zu den absoluten Meisterwerken
Chagalls zählen, wie etwa Ich und das Dorf,1911, Golgotha, 1912 (heute beide
MOMA New York), Der Fuhrmann 1912, Die Prise, ca. 1921 (heute beide
Kunstmuseum Basel), Der Soldat trinkt, 1912/1913, Paris durch das Fenster
gesehen, 1913 (heute beide in der Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)
und Russland, den Eseln und anderen, 1911 (heute Musée National dArt Moderne,
Paris).
1922 verließ Chagall Russland für immer und arbeitete von Mai
1922 bis Oktober 1923 in Berlin, bevor er sich endgültig Ende 1923 in Paris
niederließ.
Der kurze Aufenthalt in Berlin wurde entscheidend für seine
künstlerische Karriere, da er hier bei Hermann Stuck und Joseph Budko die Kunst
des Holzschnitts und des Radierens erlernte. In Berlin schuf er im Auftrag Paul
Cassirers den ersten radierten Zyklus: Mein Leben. Dies geschah in einer Zeit,
als Berlin eine Hochburg jüdischen Kunstschaffens war. Hier arbeiteten so
bedeutende jüdische Künstler wie Jakob Steinhardt, Ludwig Meidner, El Lissitzky,
Issachar Beer Ryback, Jankel Adler, die Chagall kannte und die, wie er, gerade
in ihren Graphiken ihre jüdische Identität zum Ausdruck brachten.
Viele dieser
Graphiken dienten gleichzeitig als Textillustrationen. Chagalls Zyklus zu seiner
Biographie Mein Leben verschränkt Textinhalte und Bild auf eine vollkommen
neue Weise und bestätigt auch darin seine herausragende Stellung als jüdischer
Künstler.
Gleichzeitig machten ihn dieser Zyklus von Radierungen als modernen
Graphiker international bekannt. Die in Berlin erlernten graphischen Techniken
eröffneten Chagall ein neues künstlerisches Tätigkeitsfeld, mit dem er sich bis
ans Lebensende immer wieder beschäftigt hat.
Bis 1933 war Chagall ein anerkannter Maler der Moderne, auch
und gerade in Deutschland, wo bedeutende Museumsdirektoren wie Georg Swarzenski
und Gustav Friedrich Hartlaub seine Bilder ankauften. Schon 1933 gerieten diese
Ankäufe ins Visier nationalsozialistischer Propaganda.
Bei der Ausstellung
"kulturbolschewistische Bilder in Mannheim wurde Chagalls berühmtes Gemälde
Die Prise zusammen mit einem Gemälde Jankel Adlers auf einem Handkarren durch
die Straßen gefahren und verhöhnt. 1938 wurden alle Chagall-Gemälde und
Aquarelle aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und vier davon auf der
Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt (Purim aus dem Folkwang Museum Essen,
Die Prise aus der Kunsthalle Mannheim, Der Winter, Männer mit Kuh - zwei
Aquarelle aus der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt
am Main).
Die beschlagnahmten Bilder wurden danach in der Schweiz gegen Devisen
verkauft. Sie sind heute in namhaften Museen über die ganze Welt verstreut.
Nahezu dasselbe Schicksal erlitten die Werke aus Privatbesitz, z.B. aus der
umfangreichen Sammlung Herwarth Waldens, die sich heute in den USA und in der
Schweiz befinden.
Chagall selbst hat sich mit der sich anbahnenden deutschen
Gewaltherrschaft in Gemälden wie Einsamkeit 1933; Die Zeit ist ein Strom ohne
Ufer, 1933/1937 auseinandergesetzt. Als er von der Pogromnacht 1938 erfährt,
entsteht ein Hauptwerk: Die weiße Kreuzigung (Art Institute in Chicago).
Dieses Thema greift er in der Folgezeit immer wieder auf, um Gewalt und Mord
anzuprangern (z.B. Die gelbe Kreuzigung, heute als Leihgabe im Musée d'art et
d'histoire du Judaisme, Paris).
In seinen Radierungen zur Bibel, die er 1931 beginnt, setzt er
sich gleichfalls mit den Themen Schuld und Sühne, Rache und Verdammnis
auseinander, manche Darstellungen wie die Prophezeiungen der Zerstörung
Jerusalems erscheinen geradezu als Metaphern auf zeitgenössische Katastrophen.
Chagall kann die bereits begonnenen Radierungen zur Bibel in Frankreich nicht
mehr vollenden, sondern muss 1944 vor den Deutschen fliehen.
Erst
nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil kann er diese Serie 1952-1956
fertig stellen. Bei Erscheinen ist die Auflage sofort vergriffen, unter den
Käufern sind jetzt wieder deutsche Kunden, z.B. Bernhard Sprengel aus Hannover.
In den 1950er Jahren wird Chagall erstmals wieder in
Deutschland ausgestellt und erweist sich jetzt als Publikumsmagnet. Mit seinen
Bildern wird der Wunsch nach Versöhnung assoziiert, Bilder wie "Moses erhält die
Gesetzestafeln" und die Radierungen zur Bibel werden zu Ikonen dieses Gedankens
stilisiert. Gleichzeitig beginnen Museen mit den Rückkäufen einst
beschlagnahmter Bilder und mit Neuerwerbungen. In Frankfurt erwirbt die
Adolf-und-Luisa-Haeuser-Stiftung das Gemälde "Commedia dellArte samt
zugehörigen Entwürfen für das Foyer des neuen Schauspielhauses.
Im Zeichen dieser politisch erwünschten Versöhnung erhält
Chagall als schon sehr alter Künstler den Auftrag für die Neugestaltung der
Fenster von St. Stephan in Mainz, woran sich die Landesregierung Rheinland-Pfalz
beteiligt; sie werden sein letztes Werk, das er noch vollenden kann.
Zur
Ausstellung erschien im Prestel-Verlag ein umfangreicher, reich bebilderter
Katalog.
Stiftung Brandenburger Tor Berlin
Prof. Monika Grütters und Janet Alvarado, (030) 22633016 (janet.alvarado@bankgesellschaft.de)
Marc Chagall:
Poesie, Fabeln, Impressionen
Vom 13. Februar bis zum 9. Mai 2004
in Augsburg...
hagalil.com 20-04-04 |