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Unterwegs im Alten Orient:
Der Radierer und Lichtzeichner Ephraim Moses Lilien (1874-1925)

Von Dirk Heißerer


E.M. Lilien. Unterwegs im Alten Orient.
Der Radierer und Lichtzeichner Ephraim Moses Lilien (1874-1925)
Katalog der Gallerie Hasenclever
104 Seiten, 95 Illustrationen
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In seinem epochalen Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" summiert Walter Benjamin 1935 die einzelnen Schritte der graphischen Vervielfältigung. Der Holzschnitt, so heißt es da, war schon lange vor der Schrift technisch reproduzierbar, gefolgt von Kupferstich und Radierung. Mit der Lithographie, so Benjamin, erreicht die Reproduktionstechnik zu Beginn des 19. Jahrhunderts "eine grundsätzlich neue Stufe". Graphik kann von nun an nicht nur "massenweise [wie vordem], sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt" gebracht werden. Zeitungen und Zeitschriften werden illustriert, entweder familiär betulich wie in der "Gartenlaube" oder satirisch wie in den "Fliegenden Blättern" oder dem "Simplicissimus".

Geradezu revolutionär entlastet die Photographie sodann den Künstler, wie Benjamin schreibt, "von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten"; die Aufnahme entsteht schneller als die Zeichnung, fast so schnell wie das gesprochene Wort. Benjamins Pointe - "Wenn in der Lithographie virtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photographie der Tonfilm" [1] – ist allenfalls zu ergänzen durch die Entwicklung, die zum heutigen Fernsehen und seiner ubiquitären Präsenz geführt hat. Schnellfertigkeit hatte allerdings schon immer nur einen begrenzten Kunstwert.

Was die Einmaligkeit, die berühmte Benjaminsche 'Aura' des Originals angeht [2] (gemeint ist dabei die Einmaligkeit von Gemälden), so scheinen dafür die reproduzierte Zeichnung, erst recht das Photo, nur bedingt in Frage zu kommen. Doch in unserem Falle, dem inzwischen historischen Nachlass eines großen Radierers und sorgfältig inszenierenden Photographen des frühen 20. Jahrhunderts, haben die erhaltenen Blätter nicht nur den Status des auratischen Einzelwerks. An ihnen werden vielmehr die Bedingungen und Möglichkeiten des reproduzierten Bildwerks ganz allgemein erkennbar. Ob Dokument oder Symbol, Mimesis oder Tendenz – ihre eigentliche Wirkung entfalten die reproduzierbaren Kunstwerke erst in der möglichst weiten Verbreitung.

Im Fall des jüdischen Zeichners, Radierers und Photographen Ephraim Moses Lilien (1874-1925) verbinden sich Talent, technische Brillanz und ideelles Programm auf eine singuläre Weise. Was Lilien erreicht hat, ist einzigartig schon durch die Tatsache, dass der zu Beginn mittellose Kunststudent nach mehreren Anläufen zwar in renommierten Blättern erschien, sich aber nicht auf Dauer in einer Zeitschrift oder in einem Verlag etablierte, wie etwa der Mitbegründer und lange Zeit führende Kopf des "Simplicissimus" Thomas Theodor Heine, sondern mit Hilfe einer eigenen Partei und verschiedener Verlage eine Idee, ja ein Ideal, den kulturellen Zionismus, realistisch und tatkräftig, sogar auf anstrengenden Reisen nach Palästina, immer als Künstler anstrebte und propagierte. Es sei daher erlaubt, den Künstler Lilien vor und hinter seinen kunstpolitischen Intentionen wahrzunehmen und zu würdigen, seine Zeichnungen, Radierungen und Photographien im Zusammenhang zu sehen.

In München um 1900

Den Werdegang Liliens, seine ersten zehn Künstlerjahre, skizziert der Dichter Stefan Zweig in der ersten Lilien-Monographie von 1903 sehr gut. [3] Danach wird der Sohn eines Drechslermeisters aus dem galizischen (heute ukrainischen) Drohobycz (mit reicher Bankiersverwandtschaft) dank seiner zeichnerischen Begabung erst einem Schildermaler in die Lehre gegeben, kommt mit 16 nach Krakau auf die Kunstschule, muss aber wegen materieller Not nach Drohobycz zurück, schafft es dank einer schön gemalten Urkunde zur Belohnung an die Kunstakademie nach Wien, kann dort ohne Mittel aber auch nicht bleiben, geht dennoch, in einem dritten Anlauf 1894, mit 20 Jahren, nach München und krallt sich hier fest. Seiner Frau schreibt er später über diese Zeit:

"In München wohnte ich vom Jahre 1894 bis 1900 in der Barer-, Ziebland-, Georgen- und dann wieder in der Zieblandstraße. Die 'Unterstützung' meiner reichen Verwandten (sie sind bekannte Bankiers in Lemberg) reichte nicht, um die billigsten Ateliers zu bezahlen. (...) Die 10 Mark monatlich, die meine Verwandten mir 'regelmäßig' schickten, waren zum Leben zu wenig, aber auch zum Verhungern zu viel. (...) Aber mit 22 Jahren verhungert man nicht so leicht." [4]

Nach Gründung der illustrierten Zeitschrift "Jugend" im Januar 1896 durch den Verleger Georg Hirth kann Lilien in kurzer Zeit 14 Zeichnungen an das Blatt verkaufen, eine, laut Stefan Zweig, "Reihe geistreicher und poetischer Blätter" wie die neckischen "Rosenketten", die antikisierende "Zauberflöte" oder einen auf den "Zarten Saiten" einer tränenden Herzlaute musizierenden Amor.[5] Damit liegt Lilien stilistisch zwar im Trend, doch droht ihm die Gefahr der thematischen Beliebigkeit und des Leerlaufs.

Lilien erkennt die Zeichen der Zeit jedoch auch auf technischem Gebiet. Ende 1896 gewinnt er mit einer Naturaufnahme – Thema "Herbst" - den zweiten Preis eines Photographie Wettbewerbs der "Jugend". Der Preis zieht einen Porträtauftrag für die seinerzeit bekannte Bühnensängerin Minnie Hauck nach sich; es geht voran.

Schon bald findet Lilien sein 'soziales' Thema. Als Zeichner der "Jugend" profiliert er sich Lilien im "Süddeutschen Postillon" des Herausgebers Eduard Fuchs mit, wie Stefan Zweig sie nennt, "sozialen Kompositionen" [6], etwa dem Schmied "Am Amboss", dessen Werkzeug, und mehr noch der sternenartige Funkenflug, eigenwillige Ornamentierungen sind.[7]

Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zum sozialdemokratischen "Vorwärts"-Verlag, der Lilien die Illustration des eher unbedeutenden Romans "Der Zöllner von Klausen" (1898) von Johann von Wildenradt in der Manier altdeutscher Holzschnitte anvertraut.[8]

"Juda" in Berlin

Mit dieser künstlerischen Profilierung in München wechselt Lilien 1899 nach Berlin. Hier findet er Anschluss an die Künstlergruppe "Die Kommenden" mit den jüdischen Dichtern Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam und Stefan Zweig. Hier trifft Lilien auch den jungen deutschen Dichter Börries Freiherr von Münchhausen. Die Illustrationen für dessen Balladenbuch "Juda" (1900) werden für Lilien zum künstlerisch-programmatischen Durchbruch in der "originellen Synthese", wie Stefan Zweig sie nennt, von "Zionismus" und "moderne(r) Buchschmucksbewegung": "Zwei große Ideen reichen sich in Liliens Schöpfung die Hände: der Gedanke bewusst=nationalen Judentums, der durch den Zionismus Flügelkraft gewonnen hatte, und die moderne Buchschmucksbewegung, die auch nur Selbstbesinnung und Auferstehung verrosteter, vergessener Lehren war. Aus dieser originellen Synthese entblüht Liliens schöpferisches Bekenntnis, entstammt seine singuläre Bedeutung."[9]

Nun ist dieses pathetische Lob sicher auch ein wenig der Hoffnung zu verdanken, die Zweig in die Kunst seines Freundes setzte. Entsprechend beruhte die gute Rezeption und auch der große wirtschaftliche Erfolg dieses Buches für Stefan Zweig darauf, dass hier das Jüdisch-Nationale in "ornamentaler Verwertung" wirke, dass hier nicht mehr bloß "Kunst" spreche, "sondern schon Kultur".[10] Das hieß nichts anderes, als dass Lilien zum Hoffnungsträger eines neuen jüdischen Kulturbewusstseins erklärt werden sollte.

Übertroffen wurde, so Stefan Zweig weiter, die graphische Synthese aus Zionismus und Buchschmuck der "Juda"-Balladen zwei Jahre später durch die Illustrierung der jüdischen "Lieder des Ghetto" von Morris Rosenfeld, übersetzt von Berthold Feiwel (1902). Anders als in der sozialen Differenz zu Münchhausen (der sich sehr viel später als Anhänger des Nationalsozialismus bei Einmarsch der Amerikaner 1945 ums Leben brachte), bestand zwischen Lilien und Rosenfeld die gemeinsame Herkunft aus dem jüdischen Proletariat. In den Zeichnungen Liliens ging es demnach um nichts weniger als um die Selbstbefreiung der jüdischen Kultur.

Nicht ohne Grund hat Lilien daher auch den "Liedern aus dem Ghetto" das Bildnis seines Vaters voran gesetzt.[11] Werkzeug und Hobelspäne gehen hier erneut diese eigentümliche Verbindung von Realismus und Ornament ein, wie sie schon beim "Amboss" auffiel; sie findet sich wieder in den Linien der Schneider-Zeichnungen [12] und noch in den Linien der jüdischen Kaftane.[13] Über diesen ornamentalen Aspekt hinaus hat es also einen guten Grund, wenn Lilien sich selbst in verschiedenen Selbstbildnissen mit seinem Handwerkszeug, der Kupferplatte bzw. der Druckpresse dargestellt hat.[14]

"Dichter Lilien"

Die künstlerische Größe Liliens sieht Stefan Zweig verstärkt darin, dass er der Gefahr entgehe, mit "künstlerischem Journalismus" oder gar mit "Karikaturen" nur geistreich zu sein oder, etwa beim Buchschmuck, bloß ornamentales Kunstgewerbe zu betreiben. Freilich wagt Zweig es nicht, Lilien für den Zionismus zu reklamieren. Er sieht etwas anderes, künstlerisch relevanteres. Liliens "Sehnsucht nach reiner Form", seine "reinen Flammen sozialer und nationaler Gedanken", führten ihn, so Stefan Zweig, zur künstlerischen Verdichtung seiner Arbeit im Symbol, darin der Dichtkunst gleich, so dass Lilien selbst "ein schöpferischer Dichter des Zeichenstiftes, nicht nur ein Zeichner" sei.[15] Besonders die Fähigkeit zur geradezu poetischen Beseelung mache aus jeder Zeichnung Liliens eine "Geschichte", aus dem Zeichner den "Dichter Lilien"[16].

Das ist eine Zuordnung, die für das Verständnis des späteren Lilien besonders wichtig ist. Wort und Linie gehen bei diesem programmatischen Zeichner immer eine innige Verbindung ein. Das Blatt, ob Zeichnung oder Radierung, ob Porträt oder Landschaft (nicht zu vergessen die zahlreichen Ex-libris-Zeichnungen, eine wichtige Einnahmequelle), hat bei Lilien immer einen epischen oder wenigstens szenischen Hintergrund. Aber ganz gleich, ob, wie noch zu zeigen ist, eine Bibelstelle darin ausgemacht werden kann, ob zwei alte galizische Juden in Lemberg wie Theaterfiguren nebeneinander sitzen und sich unterhalten [17], oder ob Lilien eine Gasse oder einen Marktplatz in Palästina zum buchstäblichen Schau-Platz macht, immer wirkt in Liliens Zeichnungen, wie Zweig das richtig sieht, die Verdichtung oder Verknappung der Linie erhellend und erzählend. Wenn dann, wie etwa beim "Mann im Syrerland", Lilien selbst den Anfang von Rückerts existentialistischem Gedicht zum Titel wählt [18], ist die Verbindung von Wort und Linie überdeutlich, wenn gerade diese knappe Zeichnung mit ihrer modernistisch anmutenden Reduktion – der Schattenwurf des Mannes wirkt wie eine Giacometti-Figur – durch die Assoziation mit dem Rückert-Gedicht etwas zu sehr auf den literarischen Aspekt reduziert erscheint.

Doch ist das vermutlich ein Merkmal der Kunst Liliens, das Oszillieren zwischen der knappen, prägnanten Linie und dem programmatischen Wort, zwischen dem Symbol, entweder als kultur-politische Botschaft erkennbar in der Struktur langer weiblicher Haare, muskulöser männlicher Körper, in Engelsflügeln, in dramatischen Sonnenstrahlen und frontal illustrativ etwa bei Werbe-Plakaten, oder dem photographisch genauen Dokument eines Menschen oder einer Landschaft. Freilich, mit Blick auf die Harfenspielerinnen, erst recht den traurigen "An den Wassern Babels" [19], droht bei Liliens Symbolismus der Kitsch, und zwar immer dann, wenn das Programm die Autonomie der Zeichnung überlagert. Doch wird diese Gefahr allemal wieder aufgefangen durch lebendige Hintergründe, wie etwa beim Ex libris des fröhlichen Bläsers für das Ehepaar Forstenzer. [20] Erinnert es doch an die "Verkündigung" im letzten der vier "Joseph"-Romane Thomas Manns, wenn Serach, die Tochter Aschers, vor den heimkehrenden Brüdern einhergehen darf und singend und klingend ihrem Großvater Jaakob verkündet, dass Joseph, der so lange schon Totgeglaubte, zurückkehre, dass also tatsächlich "Der Knabe lebt!" [21]

Die "Sbornik"-Zeichnungen

Drei Zeichnungen zeigen die Bandbreite der Möglichkeiten Liliens zwischen Autonomie und Programm. Entstanden als Ergebnis einer Russlandreise 1902 mit dem Dichter Maxim Gorki waren sie für eine Sammlung jüdischer Literatur unter dem Titel "Sbornik" geplant, die jedoch aufgrund der politischen Unruhen in Russland Ende 1905 nicht zustande kam.

"Der Kabbalist" ist Porträt und Symbol in einem. Die Konzentration des Mystikers ist geradezu handgreiflich spürbar. Vorlage für diese prägnante Zeichnung ist eine erhaltene photographische Aufnahme.[22] Im Vergleich lässt sich erkennen, dass Liliens Kunst hier in der Reduktion besteht, in der konzentrierten Nachzeichnung des photographischen Porträts, wobei die dunkle Fellmütze die elektrische Spannung eines Heiligenscheins erhält und die hellen Barthaare zu Feuerzungen werden. Aus der identifizierbaren Person wird so der Typus des Kabbalisten, des jüdischen Mystikers.

Sehr überzeugend wirken auch "Vater und Sohn".[23] Edgar Alfred Regener schreibt dazu in der zweiten Lilien-Monographie von 1905: "Die Mütze zeigt den weichen Fuchsschwanz. Der Staat verlangt es, ihn vorn zu tragen als weithin sichtbares Zeichen; der Jude nahm ihn von der Brust und legte ihn um den Rand seiner Mütze, so war er noch deutlicher zu sehen."[24] Selbstbewusste Eigenheit, Liliens eigener Wesenszug, spricht aus dem Blatt; Ulf Diederichs meint zu recht: "Technik und Gestaltung bilden eine Formel, und nie wirkt Liliens Kunst freier."[25]

Das dritte Blatt ist eindeutige Programmkunst, pathetische Anklage am Beispiel eines Priesters auf dem Scheiterhaufen, den Märtyrern des Pogroms von Kischinew gewidmet, und Feuerzungen, Thorarolle, Gebetsmantel sowie die Fittiche der rettenden Engelsflügel bilden zusammen mit der hebräischen Bildinschrift eine Einheit.[26]

Symbol-Kunst

Durch Blätter mit diesen Themen und in diesem Stil, noch dazu durch seine zahlreichen Ex-libris, besonders für gesellschaftlich hoch stehende Persönlichkeiten [27],  war der Lilien ab etwa 1900, wie Stefan Zweig bemerkt, "ein Mittler zwischen der erlesenen Welt, zu der er sich Bahn gebrochen hat, und den zahlreichen Entfremdeten der Bildung, von denen er gekommen" war. [28]

Herausragendes Symbol dieser Kunst ist für Zweig die so genannte "Kongresskarte", das "Gedenkblatt zum fünften Zionistenkongress" (Brieger) [29] 1901 in Basel, die selbst im hintersten Russland die zionistische Idee hoffnungsvoll verkünde. Selbst die nachvollziehbare formale und inhaltliche Skepsis diesem Blatt gegenüber, auf dem der alte, müde, dornenumrankte Jude abgewandten Blicks vom Engel die Richtung auf das Morgenrot Zions gewiesen wird, in das hinein der pflügende Bauer hoffnungsfroh schreitet, gesteht dem Blatt die Tendenz zu,  "ein möglichst breites Publikum anzusprechen" [30], ganz wie Stefan Zweig es bereits knapper gesagt hat.

Zweig schließt seine Einleitung 1903 mit dem Lob dafür, dass Lilien der erste jüdische Künstler gewesen sei, "der den chassidischen Fanatikern die Darstellung des Nackten gewiesen" habe, der zudem "die Formenfülle des alttestamentarischen Ritus zu ornamentaler Verwertung brachte" und der "den ersten nationalen Verlag" gegründet habe.[31] Gemeint ist damit der 1902 zusammen mit Martin Buber, Berthold Feiwel und Davis Trietsch in Berlin gegründete "Jüdische Verlag". Damit nennt Zeig nicht nur die Gründungsmitglieder der "Demokratisch-Zionistischen Reaktion" (1900), sondern zeigt vor allem, dass Liliens künstlerisches Programm nicht das eines Einzelgängers war, sondern bereits in den großen Zusammenhang der neuen politisch-kulturellen Selbstbestimmung deutscher Juden gehörte.

Dabei hebt Zweig jedoch die künstlerische Autonomie Liliens hervor, dessen "eigene Gestaltung" vom Zionismus nur den "Impuls" erhalte, und mit besten künstlerischen Mitteln eine eigene Zukunft gestalte. Das kreative Primat Liliens betont Stefan Zweig noch in seinem Lebensbuch "Die Welt von gestern" (1944), wo es in Erinnerung an seine Berliner Jahre heißt: "In dem Zeichner E. M. Lilien, dem Sohn eines armen orthodoxen Drechslermeisters aus Drohobycz, begegnete ich zum erstenmal einem wirklichen Ostjuden und damit einem Judentum, das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt gewesen."[32]

"Judenstil"?

Zweigs Lilien-Studie von 1903 summiert den Werdegang des Künstlers im Wort vom "kulturellen Priestertum"[33], ein Programm, das, wie noch zu zeigen ist, Lilien selbst ganz konkret für sich in Anspruch genommen hat.[34]

Vor diesem differenzierten Hintergrund wirken neuere Thesen zu Lilien mitunter etwas einseitig, etwa die von Stanislawski, der 1999 Liliens Synthese als "Vermengung von Jugendstil und Judentum" bezeichnet, die er "einigermaßen spielerisch 'Judenstil' nenne".[35] Dabei ist der Begriff "Judenstil" schon deshalb ungut, weil Lilien eben nicht, und sei es nur ornamental, stilbildend für jüdische Kunst allgemein geworden ist. Er war ein Sonderfall des "Jugendstil", dessen Biographie von seinen jüdischen Themen nicht zu trennen ist. Seine eher als Pflichtübung anzusehenden Illustrationen der Gedichte des italienischen Décadent und Parvenu Gabriele D'Annunzio (1904) – übrigens die erste und bis heute einzige Ausgabe von D'Annunzio-Gedichten in deutscher Sprache! - sind bei ähnlich emphatisch-heroischer Diktion wie in den "Liedern aus dem Ghetto" wahrlich nicht als "Judenstil" zu bezeichnen. Die wiederum gute Beobachtung, dass Theodor Herzl, den Lilien 1901 in Basel auf dem Balkon des "Drei Könige"-Hotels photographierte, als männliche Ikone des Zionismus wiederholt auf Lilien-Zeichnungen erscheine – was den von Stefan Zweig angesprochenen Symbol-Wert dieser Figur in den Zeichnungen Liliens als "graphisches Sinnbild des idealisierten jüdischen Mannes" [36], unterstreicht – mindert  Stanislawski durch die Hypothese von der "unbestreitbare(n) und vielleicht sogar unbewußte(n) homoerotische(n) Tönung von Liliens Herzl-Bild" [37]. Lilien selbst, dessen "Schelmentrieb" Stefan Zweig hervorhebt [38], hatte viel Humor, das zeigen auch die liebevollen Briefe an seine Frau Helene, und er hätte diese aporetische These von der latenten Homoerotik möglicherweise trefflich kommentiert.

Lebensplan

Die Briefe an seine Frau, herausgegeben 1985 von Liliens Sohn Otto (1907-1991) und Eve Strauss, sind die bislang beste Quelle für die Beschäftigung mit Lilien, wertvoll auch durch die vielen präzisen Angaben in dem chronologisch freilich etwas diffusen Vorwort von Ekkehard Hieronymus.

Die Briefe beginnen mit einem mutigen Schreiben der 25-jährigen angehenden Künstlerin Helene Magnus vom März 1905 aus ihrer Heimatstadt Braunschweig an den sechs Jahre älteren Lilien, dem sie, angeregt von Regeners Monographie, die Gretchen-Frage stellt, wie er es denn nun mit dem Zionismus halte. Liliens erste Antwort, er sei Künstler, und "kein politischer Agitator" (30. März 1905), wird schon bald präzisiert. Ihm, der sich durch seine persönliche Not schicksalhaft mit der Not der Juden verbunden fühle, gehe es um "politische Unabhängigkeit" der Juden (27. Juni 1905), am besten in Palästina, wo noch genügend Raum sei (2. Juli 1905), um das neue, selbstbewusste Judentum: "Der Jude ist kein Kriechtier mehr!" (ebd.) Zudem habe der Zionismus eine "kulturhistorische Mission": Die Juden seien "als Orientalen, die Jahrhunderte in Europa lebten, die geeignetsten Vermittler zwischen den Kulturen des Orients und des Occident." (8. Juli 1905).

Leider sind die weiteren Briefe von Helene Magnus nicht in die Ausgabe aufgenommen worden; eine Transkription ihrer erhaltenen Briefe aus der Zeit von März 1905 bis August 1906 durch Liliens Tochter Hannah (Jg. 1911) liegt freilich vor und zeigt sehr aufschlußreich, wie sich das spätere Ehepaar einander annäherte. So ist die Präzisierung der Lebensvorstellungen Liliens auch ein Resultat der hartnäckigen Fragen Helenes. Als sie ihn am 15. Juli fragt: "Seit wann leben sie in Berlin und warum blieben sie nicht in München?" antwortet Lilien am 20. Juli: "In Berlin  lebe ich schon fünf Jahre. Würde ich in der Lage sein, mein Leben so zu gestalten, wie es mir nützlich scheint, so würde ich die Hälfte des Jahres in einer großen Weltstadt wohnen, die andere Hälfte auf Reisen im Orient zubringen. Sechs Monate arbeiten und sechs Monate Gottes Welt begaffen, das wäre die Erfüllung meiner Sehnsucht. München wäre mir jetzt als Großstadt zu klein und als Kleinstadt zu groß. München ist eine sogenannte Kunststadt ersten und eine Weltstadt letzten Ranges. Sie finden dort ein Gemisch von Kunst und Philistertum. Das Malen ist dort wie das Biertrinken: Tradition!"

Erste Palästinareise 1906

Das sind deutliche Worte und ein klarer Lebensplan, den er später, allerdings auf Kosten seiner Gesundheit, mit einem unendlichen Fleiß und vier anstrengenden Reisen nach Palästina, tatsächlich einhält. Liliens Ziel im Sommer 1905 heißt dem entsprechend Jerusalem, wo er, wie er Helene Magnus am 10. August 1905 mitteilt, laut Beschluss des siebten Zionistenkongresses "den 'Bezalel', eine  Gesellschaft für jüdische Hausindustrie und Kunstgewerbe" einrichten soll. Ende des Jahres, aus dem "Sie" der Briefpartner ist bereits das vertrauliche "Du" geworden, reist Lilien über Lemberg und Drohobycz, Sofia und Konstantinopel für acht Monate nach Jerusalem. Unterwegs will er seine Eindrücke auch für ein "Palästina-Buch" verwenden, für das ihm der Insel-Verlag bereits einen Vorschuss gezahlt hat; das Buch erscheint jedoch nicht.

Diese Reisen, Lilien schreibt das später einmal selbst, unternahm er "fürs Sehen und Sammeln".[39] Die Kamera war dabei für ihn eine wichtige und nützliche Hilfe. Anders als in den Zeiten Goethes, der auf seiner ersten Italienischen Reise 1787 in Christoph Heinrich Kniep einen eigenen Zeichner und Aquarellisten beschäftigte, war Lilien dabei auf sich selbst angewiesen. Das Medium lag ihm wohl auch deshalb, weil Radierung und Photographie miteinander verwandt sind. Hat die Radierung und der Kupferstich ihren Namen vom Schaben, Kratzen (lateinisch "radere") in die Kupferplatte, mit anschließendem Ätzen, so beruht die Photographie, übersetzt Licht-Schrift oder Licht-Zeichnung, auf der Lichtempfindlichkeit entsprechend präparierter Glasplatten oder Papiere mit anschließender Entwicklung und Fixierung. Beiden Medien ist gemeinsam, dass ihre Druck- oder Kopie-Ergebnisse beliebig vervielfältigt werden können.

Aus der Vielzahl von Motiven, die Lilien auf seinen Reisen aufnahm, entstanden später im Atelier Zeichnungen, die bereits in einer eigenen Ausstellung unter dem Titel "Painting with light. The photographic aspect in the work of E. M. Lilien" 1990 in Tel Aviv den Photos einander gegenübergestellt wurden.


Die Klagemauer in Jerusalem, 1908
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Wie Milly Heyd erläutert, ist ein berühmtes frühes Blatt Liliens, "Die Klagemauer in Jerusalem" (1908) auf den Paulusbrief an die Hebräer (9, 4-9, 27-28) beziehbar.[40] Dem 'realistischen' Gewimmel beim "Volksfest in Jerusalem" (1908)[41] und den düsteren "Palmen" [42] stehen stilisierte Motive für Ex libris und Neujahrskarten gegenüber.[43] Sogar in der 'natürlich' wirkenden "Karawanserei in Beyruth" ist ein Bezug zu den Evangelien gesehen worden, als Illustration von Jesu' "Einzug in Jerusalem" [44], doch ist diese Deutung als Beleg für die bei Lilien vermutete "Identität im Konflikt" (Heyd) sicher nicht ausschließlich zu sehen.

Doch zurück zur tatsächlichen Palästinareise 1906. Seiner Braut schreibt Lilien aus Jerusalem ausführliche und anschauliche Briefe seiner Erlebnisse. Der "Dichter mit dem Zeichenstift" ist viel mit dem Photoapparat unterwegs und kündigt "einige Aufnahmen" an (21. Februar 1906). Besonders fasziniert ist Lilien von den Talmud-Lesern und Thora-Schreibern, die er auch auf seinen folgenden Reisen immer wieder aufnimmt.[45]

Zurück in Berlin, gelingt es ihm vor allem, den äußerst skeptischen Brautvater von seinen Leistungen und finanziellen Möglichkeiten zu überzeugen, so dass Lilien und Helene Magnus im Dezember 1906 gemeinsam "ins gelobte Land der Ehe" (16. Oktober 1906) reisen können. Das "Portrait Helene Lilien mit Hut" bewahrt uns diese schöne Frau dauerhaft.[46]

Das herausragende Resultat dieser ersten Reise nach Palästina ist für Lilien das Projekt einer mehrbändigen illustrierten Ausgabe der Bibel, die ab 1908 bei Georg Westermann erscheint. Einige Zeichnungen aus Palästina kann er direkt für dieses Projekt verwenden.[47]

Priestersegen

Als Herausgeber der insgesamt drei Bibel-Bände fungiert der protestantische Pastor Ferdinand Rahlwes, mit dem Lilien bereits 1908 eine interessante Auseinandersetzung hat. Es geht dabei um die gespreizte Fingerstellung beim jüdischen Priestersegen, gegen die Rahlwes aus christlicher Sicht Einspruch erhebt.[48] In einem Brief an den Verleger Westermann vom 21. Oktober 1908 setzt Lilien alles auf eine Karte und behauptet, er sei geradezu mehrfach Fachmann: "Als Jüngling, der vom Stamme der Priester ist, habe ich selbst an der Seite meines Vaters das Volk auf diese weise gesegnet."[49] Und als Künstler, dem Stefan Zweig, wie wir hörten, "kulturelles Priestertum" bescheinigte [50], dürfe ihm "kein großes Symbol entgehen, egal ob es die, die sich Juden, oder die, die sich Christen nennen, für sich beanspruchen."[51] In seiner Antwort an Pastor Rahlwes geht Lilien sogar noch einen – künstlerischen – Schritt weiter, und gesteht "(...) ganz offen: Wenn diese Handstellung des Priestersegens nicht durch Jahrtausende überliefert wäre, so hätte ich sie erfinden müssen."[52]

Milly Heyds Zuordnung der "Klagemauer in Jerusalem" [53] zum Paulusbrief an die Hebräer (9, 4-9, 27-28) und damit auf "ein Kapitel, das den Hohen Priester, die Tempelpriester (Cohanim) und die Leviten beschreibt", [54] könnte die Aussage Liliens, der sich zum Stamm der Cohen gehörig bezeichnete [55], als Kombination aus jüdischem und künstlerischem Selbstbewußtsein erklären. Doch ist wiederum bekannt, dass Lilien eher Agnostiker war, wenn auch mit einem starken Traditionsverständnis.

An der Frage des Priestersegens zeigt Lilien auf jeden Fall wieder seine ganze künstlerische Entschiedenheit. Man betrachte zudem den künstlerisch-gesellschaftlichen Aufstieg Liliens vom proletarischen Ostjuden zum Illustrator der Bibel, vom Sohn eines Drechslermeisters in Drohobycz zu den wohlhabenden Schwiegereltern in Braunschweig, die das "Abendblatt" lesen [56] und sich darin, ebenso wie ihre Tochter bei der "Morgenlektüre" im Bett [57], als Angehörige des "Volks der Bücher" [58] insgeheim nur wenig von den jüdisch-priesterlich Lesenden unterscheiden, die Lilien so auffällig oft im Orient aufgenommen und dargestellt hat.[59]

Zweite Palästinareise 1910


Brunnen auf dem Tempelplatz, 1910
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Zahllose Bücher gab es bei Liliens gleich in zwei Wohnungen. Während der Künstler – entsprechend seinem Lebensplan - in Berlin arbeitete (Pariser Straße 27), lebte seine Frau Helene (mit Sohn Otto und in Erwartung Hannahs) zeitweise im Braunschweiger Haus ihrer Eltern (Wolfenbüttler Straße 3). Dieser räumlichen Trennung sind zahlreiche Briefe zu verdanken, die Liliens Arbeit bis ins Detail beschreiben. Keine Briefe gibt es dem entsprechend von der zweiten Palästinareise, die das Ehepaar im Frühjahr 1910 gemeinsam unternimmt.[60] Die Radierungen, die im Anschluss daran 1910 und 1911 entstehen, sind lichtvolle Blicke auf die "Palmen der Sakkarah" ebenso wie auf die Zypressen oder den Brunnen auf dem Tempelplatz von Jerusalem.[61] Doch auch die ärmlichen "Araber-Zelte" übersieht Lilien nicht, setzt sie noch beim Blick "Jerusalem vom Ölberg aus gesehen" und im späten "Jerusalem"-Blatt (1919) ein.[62] Für Hinterhöfe, Straßen, Gassen, in Damaskus wie in Beyruth, hat er ebenso einen Blick wie für die anonyme "Jüdin" oder die "Schiffstaue" der Überfahrt.[63] Stilisiert sind die "Pyramiden (in Kairo)" in der Reduktion auf die Wüsteneinsamkeit von Mensch und Tier vor dem "stereometrischen Grabesgebirge" (Thomas Mann) und erst recht das berühmte symbolistische Blatt "An den Wassern Babels" (1910) [64], das Lilien besonders gut verkaufte. Wieder zurück in Berlin, setzt Lilien seine Arbeit gezielt fort; seine "Esther" verdankt sich dem Portrait seiner Frau Helene[65]; und um die malerischen "Nilpferde" für das Buch Hiob zu zeichnen, geht er im August 1910 kurzerhand in den Berliner Zoo und photographiert die Kolosse.[66]

Lilien ist unermüdlich fleißig. Im Juli 1912 reist er in die Hohe Tatra nach Zakopane und bringt, wie er schreibt, "das ganze Bauernleben im Gebirge (...) in selbstgemachten Photographien mit."[67] Daraus entsteht etwa "Der Bauer aus Zakopane" (1912).[68] Der Fleiß wird belohnt: Eine Lilien-Ausstellung in Budapest im November und Dezember 1912 hat mit vielen Verkäufen einen großen Erfolg.

Einen weiteren großen Schritt zur Vervielfältigung seiner Arbeit bietet ab Sommer 1913 die Zusammenarbeit mit der Neuen Photographischen Gesellschaft (NPG) in Berlin, die Radierungen als Postkarten und kleine Kunstblätter in Massenphotographien herstellte und vertrieb.[69] Lilien ist dafür mit der Kamera immer 'im Dienst'. Selbst auf einer kleinen Reise im Herbst 1913 durch die Lüneburger Heide versäumt er es nicht, den Morgennebel zu nutzen, "um phantastische Schattenrisse zu photographieren".[70] Technisch und urheberrechtlich interessant ist seine Überlegung, dass "die Originalabzüge von den Platten [gemeint sind die Kupferplatten der Radierungen] keine Reproduktionen sind und mir gehören"; das hat Auswirkungen für die Verhandlungen mit der NPG.[71]

"Lufteffekte"

Die nächste Palästinareise ist schon geplant, und es wird sogar erwogen, einen Christus-Film zu drehen, wozu es jedoch nicht kommt.[72] Lilien hält im Februar und März 1914 Vorträge mit Diapositiven seiner Aufnahmen aus Palästina, bis endlich die lange geplante Ausstellung in Lemberg zustande kommt. Als besonderen Triumph schreibt Lilien seiner Frau eine Rezension ab, die ihm zeigt, dass Lemberg durchaus auf der Höhe der westlichen Welt sei, und "in Europa und nicht in Halbasien" liege. Da heißt es also: "Der Gesamteindruck ist ein außergewöhnlicher: fast gibt es kein einziges Werk, das als schwächer zu beurteilen wäre, alle stehen auf der höchsten Höhe der graphischen Kunst, in der Lilien als wahrer Meister sich uns darstellt. In seiner schwarzweißen Technik erreicht er großartige Perspektivresultate, ebenso zeichnerische als auch Lufteffekte, so dass man gezwungen ist, immer wieder an einzelne Werke zurückzukommen. Die Ausstellung, wie es zu erwarten ist, wird von großem Erfolge gekrönt sein. Wir werden noch ausführlich darüber berichten."

Das Wort von den "Lufteffekten" ist ausgezeichnet; es ist aus der großen Kunst, der Ölmalerei entlehnt, und meint vielleicht eher "Lichteffekte". Doch die Tatsache, das die großartige Wirkung der Zeichnungen und Radierungen Liliens bei diesem Kritiker erkannt und benannt wurden, dass, anders als bei der gefürchteten nationalistischen Zeitung "Slowo Polskie", die Wirkung der Blätter, und nicht die vermeintliche 'Tendenz' Thema ist (das Blatt bezeichnet Liliens Arbeiten entsprechend als "zionistische", nicht aber "polnische" Kunst [73]), die Tatsache also, dass seine Arbeiten in der Heimat so oder so in ihrer künstlerischen Qualität überzeugten, war für Lilien eine große Genugtuung. Ein übriges tat der gute Verkauf der Radierungen, wenn auch fast ausschließlich an Juden, und so konnte sich Lilien im April 1914 auf seine dritte Reise nach Palästina begeben.

Dritte Palästinareise 1914

Emsig unterwegs bereits in Kairo ("in den Basaren, Citadelle, Mameluckengräber und am Nil") werden abends "die ersten Bilder entwickelt" (19. April 1914); auch in Jaffa läuft Lilien den "ganzen Tag (...) mit der Kamera herum" (26. April 1914), handelt sich in Jerusalem "sehr schöne Aufnahmen und ein(en) kleine(n) Hitzschlag" ein (6. Mai 1914), bringt es allerdings auch fertig, dass ihm, wie er sagt, neben Allah und dem Gouverneur als Einzigem "der Tempelplatz seine verborgensten Schätze und Heiligtümer zeigen muß". Dem Verantwortlichen muß er allerdings "versprechen, nur zu photographieren, nicht aber zu zeichnen." So ändern sich die Zeiten! Heute gilt eine photographische oder Film-Aufnahme als das Höchstmaß an Authentizität und ist vielfach in militärischen Bereichen und im Gerichtsaal verboten. Zu Liliens Zeiten aber, als die Photographie umständlich genug immer noch in ihren Anfängen steckte, galt die zeichnerische Souveränität der Technik noch als überlegen und wurde eher verboten als die mechanische Photographie. Freilich, das, was Lilien sieht, als für ihn das Goldene Tor vor dem Thron Salomos geöffnet wird, ist pure Ernüchterung, wenn auch erwartet: "Ein einfaches leeres Zimmer mit gothischen Bögen. Auf dem Boden billige Strohmatten, von der Decke hängen Ampeln herunter. An der Wand, dem Ölberge zu, stand ein Katafalk mit einer durchlöcherten Decke aus Sackstoff zugedeckt. Meine photographische Platte tat mir leid."[74]

Er reist in den Norden, zum Toten Meer und nach Hebron, hat Ende Mai "schon mehr als 200 Aufnahmen gemacht" und bereits alles Landschaftliche des südlichen Palästina" gesehen. Er will noch "Köpfe, viele Judenköpfe (...) sammeln", Ende Juni mit Jerusalem und Nablus fertig zu sein und danach Haifa, Tiberias und Damaskus  aufsuchen. Tagsüber reist er und photographiert, abends und nachts wird entwickelt.

Die Radierungen aus dieser Zeit sind großflächige Szenerien, der "Syrische Hirte" mit seiner Herde, der schwarz-gähnende "Zugang zu den Königsgräbern in Jerusalem", das schroffe "Gebirge Juda" und besonders die Talmudleser und der Thora-Priester.[75]

Da greift die Zeitgeschichte ein. Die Trauerfeier anlässlich der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in der Grabkirche, in die Lilien als einziger Jude ausnahmsweise eingeladen wird, was er jedoch empört zurückweist, gibt ihm Gelegenheit, kurz inne zu halten und die vergangenen Tage Revue brieflich passieren zu lassen. Ein Gartenfest mit Polonäse endete vor wenigen Tagen um vier Uhr in der Früh mit der ausführlich geschilderten Hinrichtung eines Delinquenten am Damaskustor. Das großartige Blatt gewinnt aufgrund dieser Schilderung noch eine besondere Tiefenschärfe.[76]  Dann, als der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist, muss Lilien umständlich die Heimreise antreten und kann Mitte September den Schwiegereltern seine Rückkehr mitteilen und sie als guter Patriot auffordern, ihre Tochter beim Kauf von Kriegsanleihen zu unterstützen!

Krieg (und vierte Orientreise)

Das Engagement des Freiwilligen in der östereichisch-ungarischen Arme, seine Ausbildung zum Leutnant und seine Abkommandieren in das k.u.k.-Kriegspressequartier in Wien, wo neben Lilien noch andere Künstler und Literaten wie Robert Musil, Rainer Maria Rilke und Egon Erwin Kisch dem Fronteinsatz entzogen werden, führt im Oktober 1917 zu Liliens vierter und letzter Palästinareise, diesmal im Auftrag des Kriegspressequartiers, de facto als "Alleinreisender in Asien" (14. Januar 1918); der "Reiter im Heiligen Land" ist ein verhülltes Selbstbildnis dafür.[77] Er stellt sich dar mit einem Zugführer, erlebt "Russische Gefangene in Jerusalem" [78] und führt im Mai 1918 in Konstantinopel beim Besuch des österreichischen Kaisers Karl und seiner Gattin als Presseoffizier den Oberbefehl über Photographen und Filmkameraleute.  Dann ist für ihn auch dieses letzte orientalische Abenteuer mit der, zumindest nach außen hin, hohen öffentlichen Anerkennung des alten Österreich, überstanden. "Der Leutnant" nimmt seinen Abschied.[79]

Letzte Jahre

Mit dem Kriegsende kommt Lilien über Wien nach Berlin zurück. Ein Verkaufskatalog seiner "Radierungen" erscheint im Wiener Verlag Halm und Goldmann, deren Galerie sogar während des Krieges sehr erfolgreiche Ausstellungen mit Arbeiten Liliens veranstaltet hatten. Die Einleitung zu diesem bis heute gültigen Werkkatalog verfasst Adolph Donath etwas zu selbstverliebt, was Lilien in einem Brief an seine Frau am 29. Juni 1919 so kommentiert: "Donath ist so begeistert von seiner Einleitung, dass er sich weigert, noch 10 Zeilen – die ich brauche – zuzuschreiben. Die Einleitung ist sehr hübsch. Auf drei Seiten zitiert er sich selber zweimal. Ich schrieb ihm, er soll sich noch einmal zitieren, aber er meint, ich kann zufrieden sein. Was kann ich machen? Ich bin zufrieden" (B. 260).

Der Tod der Schwiegereltern infolge der grauenhaften Spanischen Grippe nach dem Krieg zwingt Lilien 1920 zur Übersiedelung nach Braunschweig, wo er allerdings seine Arbeit unbeirrt fortsetzt und zusätzlich "die Schönheiten Braunschweigs" radiert (23. Juli 1921) [80]. Mit Bravour steuert er durch die Inflation und erlebt am 23. Mai 1924 anlässlich seines 50. Geburtstags eine große Ehrung im Logenhaus der Berliner Bnei Brith; die Eröffnungsrede hält Chaim Weizmann, der Präsident der zionistischen Bewegung und von 1948 bis 1952 der erste Staatspräsident Israels.

"Zauberberg" in Badenweiler

Kurz darauf beginnen sich die unglaublichen Strapazen, die sich Lilien abverlangt hat, grausam zu rächen. Völlig unerwartet erleidet er vor einem Lichtbildervortrag "Redende Steine" über Palästina im Spätherbst 1924 einen Schwächeanfall, zwingt sich aber zum Durchhalten und muss im Mai 1925 nach Badenweiler zur Kur. Sehr zuversichtlich schildert er seine Situation, ganz ähnlich wie in Thomas Manns damals aktuellen Roman "Der Zauberberg" (1924). Am 5. Juni 1925 beschreibt Lilien seiner Frau eine Szene, die gut in den Roman passen könnte: "Ich lebe hier wie in einem richtigen Bade. Ich bin schwer krank, niemand merkt aber was davon, ich am allerwenigsten, und esse, gehe spazieren, und habe nie Zeit. Sehr interessant sind fast immer die Tischgespräche. Die Mutter von der Tochter mit Bubikopf hat jetzt Zuwachs. Ihr Mann und Sohn sind seit Pfingsten zu Besuch. Zwei Autos! (...) Die Mutter fragt über den Tisch: 'Herr L. Sie sind doch der Kunstmaler L.?' Die Tischgesellschaft antwortet für mich bejahend. Nun fragt sie mich "Was malen Sie? Ich gebe die bewährte Antwort: Katzen! 'Siehst Du', sagt Mutter zu Tochter: 'Herr L. ist Kunstmaler und nicht der Verfasser der Bibel'. Die Tischgesellschaft behauptet nun, ich wäre doch der Illustrator der Bibel. Darauf erzählt sie, wie sie und ihr Neffe mich verehren, sie hat sogar für 75 M die Bibel, die ich 'verfaßt' habe, für ihren Neffen gekauft und möchte mich mit ihrem Sohn bekannt machen. Den anderen Tag steht, als ich zum Essen herunterkomme, vor Villa Hedwig ein weißes Auto. Neben mir sitzt ein Jüngel, dem ich von der Mutter vorgestellt werde: 'Das ist Herr Lilien, den Du doch kennst, er ist der Verfasser der Bibel'. Ich wehre ab. 'Gn. Frau, die Bibel hat der liebe Gott verfasst, ich habe nur einige Zeichnungen zu ihr gemacht'. Und so geht die 'Konversation' lustig weiter".[81]

Kaum anderthalb Monate später ist Ephraim Moses Lilien in Badenweiler seinem Herzleiden erlegen. Seine letzten Arbeiten, etwa der mit Dürers 'Hieronymus im Gehäus' kombinierte "Lesende Jude", oder auch "Der müde Wanderer" als Ahasver vor der steinernen Ewigkeit von Sphinx und Pyramiden[82], wirken in der Kombination aus Realismus und Symbol wie eine Reprise der frühen Lilien-Zeichnungen, besonders wenn man den müden Blick des alten Juden mit dem des Alten auf der "Kongresskarte" vergleicht. Doch ob diese Ansätze eine neue, gewissermaßen verschärfte 'realistische' Romantik Liliens ergeben hätten, muss offen bleiben. Liliens Frau, so berichtet Otto Lilien im Vorwort zur Briefausgabe, blieb mit den Kindern in Braunschweig und floh erst 1939 nach England, nachdem ihre Kinder Deutschland bereits vorher verlassen hatten. An Otto, der in Jerusalem war, schickte sie die Zeichnungen und Radierungen Liliens, seine Bibliothek und seine Briefe. Eine zweite Sendung wurde bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Bremen aufgehalten, als jüdisches Eigentum beschlagnahmt und offenbar versteigert. Nach Aufenthalten in den USA und in Indien ließ sich Helene Lilien schließlich in Dänemark nieder, wo sie 1971, im Alter von 91 Jahren, gestorben ist.

Liliens Bilder, seine Zeichnungen, Radierungen und Photographien, Lichtzeichnungen allesamt, sind Grundbestand jüdischer Kultur und Identität geworden und haben die Vernichtungspolitik in Deutschland überstanden. Ob Symbol oder Dokument, Lilien lässt mit technischer Brillanz Wesenszüge von Menschen und Orten aufscheinen, die uns heute tagtäglich in ihrer grauenhaften Aktualität durch Fernsehbilder nahe gebracht werden. Was bleibt, bei solcher Differenz zwischen einst und jetzt, als Schlusswort? Am besten vielleicht ein Zusatz von Stefan Zweig auf einer Karte Liliens aus Wien vom April 1917 an seine Frau, nach einem "Vortrag ohne Zwischenfall. Haus ganz ausverkauft. Großer Beifall". Stefan Zweig ergänzt: "Efra hat uns als Mose das gelobte Land gezeigt, Publicum vortrefflich, Beifall weit über Gebühr! Herzliche Grüße".[83]

Dieser Essay wurde mit freundlicher Genehmigung der Galerie Hasenclever aus München zur Verfügung gestellt. Bitte kontaktieren Sie Herrn Hasenclever, wenn Sie weitere Fragen zu E.M. Lilien haben oder sich für den Ausstellungskatalog sowie erhältliche Werke von Lilien interessieren:

Galerie Michael Hasenclever
Cuvillierstr. 5
D-81679 München
Tel +49-89-99750070
Fax +49-89-99750069
Email: gallery@hasencleverart.com
http://www.hasencleverart.com

Anmerkungen:

[1] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935). In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main, 1969, S. 148-184, hier S. 151
[2] Ebd., S. 150
[3] Zweig, Stefan: Einleitung. In: E. M. Lilien. Sein Werk. Berlin und Leipzig 1903, S. 9-29 (abgekürzt: Zweig)
[4] Lilien, Otto M.; Strauss, Eve: E. M. Lilien: Briefe an seine Frau 1905 – 1925. Mit einer Einleitung von Ekkehard Hieronimus. Eine Veröffentlichung des Leo-Baeck-Instituts. Königstein/Ts., 1985 (abgekürzt: Briefe), S. 49
[5] Brieger, Lothar: E.M. Lilien. Eine künstlerische Entwickelung um die Jahrhundertwende. Mit 226 Abbildungen nach Radierungen und Zeichnungen des Künstlers. Berlin, Wien, 1922 (abgekürzt: Brieger) S. 40, 41, 45
[6] Zweig, S. 14
[7] Vgl. Brieger, S. 42
[8] Vgl. Brieger S. 18, 23, 34
[9] Zweig, S. 16
[10] Zweig, S. 22
[11] Vgl. Brieger, S. 123; Briefe, S. 58
[12] Brieger, S. 126 f.
[13] Kat.-Nr. 26, 58,71
[14] Kat.-Nr. 1, 43, 44, 112
[15] Zweig. S. 25
[16] Zweig, S. 26
[17] Kat.-Nr. 38, 39
[18] Vgl. Verzeichnis der Originalradierungen von E. M. Lilien. Mit einer Einleitung von Adolph Donath. Wien, 1919 (abgekürzt: Donath), Nr. 17: "'Es ging ein Mann im Syrerland ...'". Das Verzeichnis gilt als maßgeblicher Werkkatalog.
[19] Kat.-Nr. 12, 13, 107; 23
[20] Kat.-Nr. 7
[21] Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. IV. Joseph, der Ernährer. Sechstes Hauptstück: Das Heilige Spiel, Abschnitt: Verkündigung. Frankfurt am Main, 1974 (GW, V), S. 1698 ff.
[22] Bar-Am, Micha and Orna: Painting With Light. The Photographic Aspect in the Work of E. M. Lilien. Tel Aviv 1991 (abgekürzt: Light), S. 81 f.
[23] Brieger, S. 141
[24]  Zit. n. Diederichs Ulf (Hrsg.) in Verbindung mit Otto M. Lilien (Israel) und der Germanica Judaica (Köln): Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdische Geschichten. Mit Bildern von Ephraim Mose [1] Lilien (abgekürzt: Sulamith), S. 139
[25]  Ebd.
[26] Vgl. Brieger, S. 137
[27] vgl. das eigene Kap. "Bücherzeichen" in: Brieger, S. 93-108
[28] Zweig, S. 27
[29] Vgl. Brieger, S. 137
[30] Stanislawski, Michael: Vom Jugendstil zum "Judenstil". Universalismus und Nationalismus im Werk Ephraim Moses Liliens. In: Brenner, Michael und Weiss, Yfaat (Hrsg.): Zionistische Utopie – israelische Realität. München, 1999 (abgekürzt: Stanislawski), S. 68-101, hier S. 86 f.
[31] Zweig, S. 27
[32] Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stockholm 1944, S. 137
[33] Zweig, S. 12
[34] Vgl. Briefe, S. 277
[35] Stanislawski, S. 71
[36] Stanislawski, S. 99
[37] Stanislawski, S. 97
[38] Zweig, S. 25
[39]  Briefe, S. 156
[40] Kat.-Nr. 2; Brieger, S. 76; Milly Heyd: E. M. Lilien, Identität im Konflikt. Faltblatt o. p. in: E. M. Lilien. Kat. Galerie Hasenclever, München, März/April 1996 (abgekürzt: Heyd)
[41] Kat.-Nr. 8
[42] Kat.-Nr. 4
[43] Kat.-Nr. 6, 7; 1
[44] Kat.-Nr. 50; Heyd 199
[45]  Vgl. Kat.-Nr. 58, 64, 71, 72
[46] Kat.-Nr. 11
[47]  Vgl. Light, 70 ff., 90
[48]  Vgl. die Abbn. in: E. M. Lilien. Jugendstil – Erotik – Zionismus. Hrsg. von Oz Almog und Gerhard Milchram im Auftrag des Jüdischen Museums der Stadt Wien und des Braunschweigischen Landesmuseums. Wien 1998 (abgekürzt: Kat. Wien), S. 77
[49] Briefe, S. 277)
[50] Zweig, S. 12
[51] Briefe, S. 278
[52] Briefe, S. 281
[53] Brieger, S. 76
[54] Heyd 1996
[55] Mitteilung von Hannah Peters am 21. April 2004
[56] Kat.-Nr. 61, 62
[57] Brieger, S. 139
[58] Brieger, S. 9-17
[59] Kat.-Nr. 58, 71, 87, 115
[60]  vgl. Briefe, S. 198
[61] Kat.-Nr. 15, 18, 20
[62] Kat.-Nr. 33, 31, 110
[63] Kat.-Nr. 40, 41, 48, 35
[64] Kat.-Nr. 23
[65] Kat.-Nr. 29, 34
[66] Kat.-Nr. 22; vgl.: Die Bücher der Bibel. Die Lehrdichtung. Braunschweig 1912, S. 164; Briefe, S. 118 ff.
[67] Briefe, S. 143; vgl. Kat.-Nr. 42; 53; 54
[68] Kat.-Nr. 42
[69] Briefe, S. 166, 290
[70] Briefe, S. 169
[71] Briefe, S. 170 (29. September 1913)
[72] Briefe, S. 171, Fußnote 150
[73] Briefe, S. 178
[74] Briefe, S. 187; vgl. Kat.-Nr. 95
[75] Kat.-Nr. 59; 68, 70, 71, 72, 64)
[76] Briefe, S. 192 ff.; Kat.-Nr. 57
[77] Kat.-Nr. 111
[78] Kat.-Nr. 98, 117
[79] Kat.-Nr. 90
[80] Briefe, S. 263; Kat.-Nr. 106, 116
[81] Briefe, S. 271
[82] Kat.-Nr. 115, 108
[83] Briefe, S. 226

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